Es ist ruhig, knapp über Null Grad, die Wintersonne scheint. Am Sarchinger Weiher weht an einem Januar-Tag ein leises und friedliches Lüftchen. Im Schatten der Walhalla im östlichen Landkreis Regensburg lebt Christian Viet. Seit 2022 trägt der 24-Jährige nun schon das rot-weiße Trikot des SSV Jahn. Als stillen und zurückhaltenden, ja teils zaghaft erscheinenden Charakter nahmen ihn viele wahr, wenn er bei Medienterminen, Interviews oder sonstigen öffentlichen Auftritten ans Mikrofon musste. Was hinter dieser stillen Fassade steckt und was Christian Viet wirklich ausmacht, lest Ihr in der folgenden Titelstory der Jahnzeit. Hier lest Ihr einen Ausschnitt der Geschichte. Den vollen Text und weitere spannende Hintergründe rund um den SSV Jahn, findet Ihr hier.
Stille Wasser sind tief, meist viel tiefer als sie erscheinen,. Das ist eine Redewendung, die uns allen geläufig ist. Sie geht leicht von den Lippen. Ihren Ursprung hat sie mutmaßlich bereits in der Antike, als davon gesprochen wurde, dass “die tiefsten Flüsse mit dem kleinsten Geräusch dahin gleiten“. Auf einen Menschen bezogen kann Stille vielseitig interpretiert werden. Oftmals zeugt sie von einer tiefgründigen Persönlichkeit, die sich hinter einer zurückhaltenden Fassade versteckt. Eine Fassade, die auf den ersten Blick abschreckt, näher hinzuschauen. Einen solch ruhigen und kalten Charakter vermutet man auch bei Christian Viet – doch auch hinter diesem schlummert viel mehr. Gerade deshalb lohnt es sich genauer hinzuschauen.
Es ist der 5. August 2023. Bei über 30 Grad Celsius brennt die Vorfreude im Jahnstadion Regensburg auf den ersten Auftritt der neu formierten Jahnelf in der 3. Liga. Zu Gast die SpVgg Unterhaching. Über 11.000 Zuschauer, so viele wie bis dato nicht mehr, sind gespannt auf den Auftakt und wissen nicht, worauf sie sich einstellen können. Zu unsicher war der Saisonübergang. Der SSV Jahn erlebte wohl einen der größten personellen Umbrüche der jüngeren Vereinsgeschichte. Nur fünf Spieler hielten dem Jahn die Treue. Darunter der erste Torschütze der neuen Saison – Christian Viet. Mit dem Hinterkopf lenkte er eine Flanke von Benedikt Saller – ebenfalls im Sommer geblieben – über Haching-Keeper René Vollath hinweg in die Maschen. Zu einem Sieg reichte es am Ende nicht, Haching konnte noch ausgleichen. Am Ende stand ein 1:1-Unentschieden auf der Anzeigetafel. Die Euphorie riss dadurch allerdings nicht ab. Im Gegenteil: Mit einer aufwendigen Choreographie im DFB-Pokal brachten die Jahnfans ihren Stolz zum Ausdruck. “Es war eine Wundertüte”, sagt Christian Viet, kurz Chrille genannt, zum Saisonstart. Gemeinsam mit Kollege Konni Faber spekulierte, wartete und telefonierte er im Sommer oft, wer denn zur neuen Saison die restlichen Kabinenplätze beziehen würde. “Wir waren gespannt, ob wir eine schlagkräftige Truppe werden würden”, so Viet.
Christian Viet: " Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Alles lief gut."
Unsicherheit ist nichts Neues für ihn. Als er als 13-Jähriger erstmals das Interesse des Kiezclubs St. Pauli auf sich zog, wollte er das gewohnte Umfeld nicht verlassen. “Ich wurde von oben bis unten mit Trainingskleidung eingekleidet und sollte zum Probetraining, aber ich wollte lieber mit meinen Freunden zuhause spielen”, erklärt er heute. Zuhause war die Ortschaft Sauensiek. Die verschlafene Gemeinde liegt in der Nähe von Buxtehude und im Einzugsgebiet der großen Hansestadt Hamburg. “Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Alles lief gut im Umfeld. Wir wohnten mit meinen Großeltern gemeinsam im Haus. Zuhause war ich nie alleine”, erinnert er sich. Mit seinen Freunden trieb er sich durch die Idylle und verbrachte viel Zeit an der frischen Luft. Eine Kindheit aus dem Bilderbuch. Auch in der Schule war seine große Stärke die Ruhe. “Ich meldete mich zwar nicht oft, aber habe immer zugehört und so auch meine Arbeiten gut erledigt”, sagt Chrille jetzt. Seine Eltern drängten ihn zu nichts. Kein überambitionierter Vater, der ihn unbedingt zum Profi machen wollte. Keine Mutter, die alles zu kontrollieren versuchte. Sondern nur einen Wunsch: Dass ihr Christian sich neben dem Fußball etwas aufbaut und ein Studium abschließt. “Ich bin eingeschrieben”, sagt er und weiß, dass es mit der gegenwärtigen Situation schwer realisierbar ist. Doch bevor er die Karriere beendet, möchte er fertig sein, um dann direkt ins Arbeitsleben starten zu können. “Meine Eltern wollen Sicherheit für mich und unterstützen mich, wo auch immer es geht.” Sein Vater arbeitete zwar unter der Woche von Montag bis Samstag, konnte allerdings schon gegen ein Uhr Feierabend machen. So blieb viel Zeit, die sie gemeinsam als Familie verbringen konnten. Ein Umfeld, das der 13-jährige Chrille nicht verlassen mochte. Ein Umfeld, das er heute noch schätzt. Aber auch ein Umfeld, das er irgendwann verlassen musste. Bei seinem Kindheitsverein hatte er einen großen Förderer – Jörg Fock. Er ermöglichte den Jungs aus der Gemeinde Turniere in Barcelona, Russland und Lissabon, selbst den FC Everton holte er zu einem Turnier ins ländliche Niedersachsen. Über ihn kam dann der erneute Kontakt zum FC St. Pauli zustande. Diesmal überwand Chrille sich und versuchte es im Trubel der Hamburger Hansestadt.
Erst zur U19 wagte sich Viet aus dem sicheren Umfeld in die 55 Kilometer entfernte Metropole. Mit 18 Jahren packte er seine Koffer und zog in eine Einzimmerwohnung. Ein später Schritt in ein Nachwuchsleistungszentrum. Doch eine lange Akklimatisierung war nicht nötig. Zu unbekümmert und gelassen ging Chrille an diese Herausforderung heran. Sich wirklich mit dem FC St. Pauli beschäftigt hatte er sich zuvor nicht. “Ich interessierte mich nicht wirklich dafür. Werder Bremen habe ich eher verfolgt. Besonders gefallen haben mir früher Diego und Ronaldinho”, sagt er heute und gibt zu, mittlerweile das Schwärmen für einen Fußballverein aufgehört zu haben. Im NLZ von St. Pauli begann seine eigene Reise 2017. Ein steiler Aufstieg sollte folgen. Stammspieler in der Folgesaison, nun als Flügelspieler, sowie Einsätze bei der U23 in der Regionalliga Nord. Gekrönt durch eine Kadernominierung von Trainer-Legende Ewald Lienen für den Profikader in der 2. Bundesliga. Am 21. Mai 2017 stand Christian Viet als 18-Jähriger gegen den VfL Bochum erstmals im Zweitliga-Kader, ein Einsatz blieb aber noch aus. Dort, im ehrwürdigen Ruhrstadion, sollte es drei Jahre später für ihn einen unvergesslichen Höhepunkt geben. “Ich kann mich noch genau daran erinnern”, schwelgt Chrille heute noch in Gedanken an das Ereignis am 05. Juni 2020. Es geht natürlich um sein Debüt in der 2. Bundesliga. “Es war nur schade, dass es aufgrund der Corona-Pandemie ohne Fans stattfinden musste. Vielleicht war es aber auch besser so”, schmunzelt er.
Die große Aufmerksamkeit braucht er nicht, er will sie nicht auf sich ziehen. Die Stille im Stadion “Anne Castroper” kommt seinem Spiel vielleicht sogar zugute, auch wenn das Debüt mit 2:0 verloren ging. Der damalige St. Pauli-Coach Jos Luhukay setzte auch in den letzten vier Spielen der Saison 2019/20 auf die Dienste des Talents. Die Verbundenheit zum FC St. Pauli hat Christian Viet besonders aufgrund der Nähe zu seiner Heimat. “Für mich gab's damals nur diesen einen Verein, auch weil meine Familie immer dabei war.” Sein größtes Ziel: Sich dort als Talent beweisen und den Sprung in die 2. Bundesliga schaffen. Ein ambitioniertes Ziel für den damals erst 21-Jährigen. Zum einen ist es in dieser Liga für junge Spieler nie leicht, Fuß zu fassen, zum anderen war der Konkurrenzkampf groß. Daniel-Kofi Kyereh, mittlerweile beim SC Freiburg unter Vertrag, Lukas Daschner, nun beim VfL Bochum aktiv, oder Rodrigo Zalazar, der den FC Schalke 04 2021/22 in die Bundesliga führte, waren noch weiter als der junge Viet. Den Kampf um Einsatzzeiten nicht annehmen? Kampflos aufgeben? Es sich leicht machen? Das ist nicht Christian Viet. Er will sich beweisen, sich durchbeißen und bei seinem Heimatverein zum Stammspieler reifen. Hinzu kommt, dass er 2018 an den Weihnachtsfeiertagen eine der wichtigsten Personen seines Lebens kennengelernt hat - seine Freundin Julia. Gemeinsam beziehen sie eine Wohnung und genießen das Leben in der "wunderschönen Stadt” Hamburg. Freundin, Freunde und Familie. Alles, was Chrille wichtig ist, hat er in seiner Nähe – Luxus für einen Fußballprofi. Umso wichtiger wird es ihm, sich beim Kiezclub durchzusetzen. Das gelingt ihm nicht.
Unter dem neuen Trainer und jetzigen Coach des 1. FC Köln, Timo Schultz, kommt er in der Saison 2020/21 auf nur drei Kurzeinsätze. “Jeder Sportler ist unglücklich, wenn er unter der Woche fünf Mal trainiert und dann am Wochenende zuschauen muss”, gibt er zu. Um Spielpraxis zu sammeln, verleiht der FC St. Pauli ihn zu Borussia Dortmund II in die 3. Liga. Die Distanz zu seiner Heimat ist erträglich. In drei Stunden ist er mit dem Auto bei seiner Familie und seiner Freundin Julia. Diese Strecke nimmt er gerne und häufig auf sich, um sie so oft es geht zu sehen. Die Zeit in Dortmund wird zu einer Erfolgreichen. Im schwarz-gelben Trikot entwickelt er sich, bekommt Spielzeit und lernt einiges dazu. In einem talentierten Ensemble aus jetzigen Bundesliga-Spielern wie Ansgar Knauff (Eintracht Frankfurt), Stefan Tigges (1. FC Köln), Justin Njinmah (Werder Bremen) oder Youssoufa Moukoko (BVB) war Christian Viet Stammspieler. Es war die erste Drittliga-Saison der U23 des BVB nach dem Aufstieg 2020/21. Unter Chef-Trainer Enrico Maaßen entwickelte sich eine schlagkräftige Mannschaft voller Talente, die schlussendlich den 9. Tabellenplatz erreicht. “Eigentlich hätten wir noch erfolgreicher sein müssen, wenn man bedenkt, wo mittlerweile die meisten spielen”, sagt Viet selbstkritisch: “Es wäre mehr drin gewesen, aber primär ging es darum, sich im Herrenbereich weiterzuentwickeln.” Und das tat er. Im Training mit den Profis des BVB staunte er oft nicht schlecht, was Weltklasse-Spieler wie Jude Bellingham oder Erling Haaland in den Einheiten angestellt haben. “Es ist ein anderer Fußball”, gibt Viet zu. Er habe eine klare Struktur und sei deutlich komplexer. In diesem Umfeld ist es möglich, sich einiges abzuschauen, nicht nur auf dem Platz. Arbeitsmoral und Mentalität sind es, die es neben Talent ermöglichen solche Leistungen tagtäglich abzurufen. Nach seiner Ankunft in Dortmund verpasste Christian Viet nur zwei Spiele und konnte dort die langersehnte Spielzeit gewinnen. Wie aus Regensburger Zeiten später bekannt, war der Mittelfeldspieler variabel einsetzbar. Mal auf dem Flügel, mal als Außenverteidiger oder mal in der Zentrale. Christian Viet bringt eine enorme Vielseitigkeit mit und ist so ein wertvolles Schweizer Taschenmesser für jeden Trainer.
Christian Viet: "Überrascht, wie schön es hier ist."
Mit viel Selbstvertrauen ging es für Chrille zurück in seine Heimat zum FC St. Pauli. Doch dort wieder angekommen, stand er vor verschlossenen Toren. Im Sommer, als er beim BVB II wirkte, nahmen die Kiezkicker Jackson Irvine, mittlerweile Kapitän und Herzstück, unter Vertrag. Zudem kam Marcel Hartel von Arminia Bielefeld ans Millerntor. Beides Ausnahmespieler auf der Position von Viet. Zwischenzeitlich übernahm in Regensburg Roger Stilz das Amt des nach Köln ausscheidenden Christian Keller. Der damals neue Geschäftsführer Sport war zuletzt in Hamburg tätig, genauer als NLZ-Leiter beim FC St. Pauli. Er kannte Chrille aus seiner Jugendzeit und kannte ebenfalls seine Qualitäten. “Erst dachte ich, dass Regensburg ganz schön weit weg ist von meiner Heimat. Als ich dann aber das erste Mal die Stadt und das Trainingsgelände besuchte, war ich wirklich überrascht, wie schön es hier ist”, sagt Viet heute zu seinen ersten Eindrücken. Dass er sich wohlfühlt, bedeutet ihm sehr viel. Nicht nur die sportliche Perspektive spiele eine Rolle, sondern auch die Bedingungen, die er in Regensburg vorgefunden habe. “Jetzt verstehe ich, warum es hier so viele Spieler lange aushalten”, scherzt er. Chrille lebt mit seiner Freundin Julia, die mittlerweile ebenfalls in die Oberpfalz gezogen ist, und seinen zwei Katzen in der Nähe des Sarchinger Weihers. Die Nähe zum Wasser und die Stille braucht er, um sich zu erholen und abzuschalten. Eine Stille, die er auch für seine Arbeit beim SSV Jahn sehr schätzt. “Hier ist kein übertriebener Medienrummel. Ich kann mich in der Stadt frei bewegen und mich voll auf meine Arbeit konzentrieren.”
Der Spitzname “Chrille” stammt übrigens von einem Mitspieler, der dachte, alle “Christians” tragen diesen. Seine Geschichte ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Und hoffentlich beweist er den Jahnfans auch in Zukunft, dass Chrille Wasser eben tief sind.
Hier lest Ihr die volle Geschichte und was Christian Viet über seine bisherige Zeit zu berichten hat. Viel Spaß beim Lesen!