Christian Martin, der seit 2016 als Leiter der Jahnschmiede tätig ist und zuvor unter anderem sechs Jahre als DFB-Stützpunkttrainer aktiv war, sprach sich im dritten und letzten Teil eines ausführlichen Interviews für die Struktur und Inhalte der deutschen Nachwuchsarbeit aus, nannte aber auch Optimierungsansätze. Zudem sprach er über die einheitliche Spielphilosophie in allen Jahn Mannschaften, die Bedingungen für ein Nachwuchsleistungszentrum in der Region Ostbayern und die Ziele der Jahnschmiede im kommenden Jahrzehnt.
Global gesehen: Wie bewertest Du die Nachwuchsarbeit in Deutschland im internationalen Vergleich?
Was die Struktur, die Inhalte und die Infrastruktur anbelangt, ist Deutschland sicherlich weltweit mit führend. Wir haben die breiteste Förderung, jedes Talent kann in Deutschland seinen Weg gehen – über die DFB-Stützpunkte, über die Vereine und über die Bundesliga-Nachwuchsleistungszentren. Dennoch ist in Deutschland meiner Meinung nach auch ein Umdenken erforderlich. Wir denken vor allem in jungen Jahren oft viel zu ergebnisorientiert. In der Bewertung der Nachwuchsarbeit wird immer gefragt, wo ein Spieler gerade spielt und auf welchem Tabellenplatz sein Team steht. Das ist nur ein momentaner Stand, ohne sonderlich große Aussagekraft im Bezug darauf, wie weit ein Spieler kommen wird. Beispielsweise sind manche Spieler von der körperlichen Entwicklung her weiter und andere weniger weit. Da müssen wir in der Bewertung der Spieler mehr darauf achten und auf die richtigen Spieler setzen, die potenziell die größten Möglichkeiten haben und nicht auf die, die aktuell die besten Spieler sind. Es kann jemand, der aktuell noch nicht so weit ist, in zwei bis drei Jahren einen anderen Spieler überholen.
Wie könnte das Deiner Ansicht nach optimiert werden?
In anderen Ländern – beispielsweise in Spanien oder Portugal, die im Nachwuchs sehr erfolgreich ausbilden, spielt die Liga bis zu einem bestimmten Alter, oft bis zur U17 oder sogar bis zur U19, keine Rolle. Ob man erster, zweiter oder dritter ist, und in welcher Liga man spielt, ist dort nicht relevant. Es gibt auch keine Auf- und Abstiege, was bei uns ein Stück weit ein Hemmnis ist, da es viele Vereine so agieren lässt, dass sie mit ihren jeweiligen Nachwuchsteams unbedingt in die Bundesliga aufsteigen oder nicht aus ihr absteigen wollen. Das ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz. Besser wäre daher ein System, wie es aktuell bereits in der U13 und U14 durch die Förderliga existiert, bei dem es keine Auf- und Abstiege gibt. In diesen Ligen spielt man gegen die anderen Nachwuchsleistungszentren und natürlich möchte auch da jeder gewinnen, aber es wird weniger Druck aufgebaut, ein bestimmtes Ergebnisziel zu erreichen. In diesem Bereich kann der Trainer sich daher besser auf die Ausbildung und Entwicklung der Spieler konzentrieren und auch jeden zum Einsatz bringen. Das ist auch ein wichtiger Punkt, denn wer sagt, dass die aktuell besten elf Spieler in der U14, welche momentan die höchste Wahrscheinlichkeit für einen Sieg mitbringen, auch in der U17 noch die Besten sind?
Lässt sich das nicht ein Stück weit vorhersehen?
Ein Stück weit ja, aber eben nicht verlässlich. Ist es nicht möglich, dass ein Spieler, der mit Blick auf sein aktuelles Leistungsvermögen auf der Bank sitzen müsste, weil er in der U14 nur 1,40 Meter groß ist, fußballerisch insgesamt über ein weitaus größeres Potenzial verfügt? Das muss man auf jeden Fall im Blick haben. Da ist gerade der Verband, aber auch wir alle, gefordert, dieses Denken und damit auch die Strukturen zu ändern. Natürlich geht es in der U19 und der U21 nah an den Herrenbereich und der Ergebnisdruck nimmt ganz automatisch Fahrt auf, aber zuvor kann man Spieler meiner Meinung nach wesentlich besser ausbilden, wenn man diesen Druck so gut es geht rausnimmt.
Gibt es Nachwuchsleistungszentren, deren Entwicklung in den letzten Jahren als Vorbild für die Jahnschmiede dient?
Man muss dabei schon sehen, dass wir in der Region Ostbayern eine spezielle Situation vorfinden: Wir haben etwa viele Spieler, die aus einer ländlichen Region kommen, es können also beispielsweise nicht alle mit der S-Bahn zum Training fahren. Auch die Mentalität der Menschen in unserer Region ist anders. Uns stehen eben andere Gegebenheiten zur Verfügung, die nicht zu vergleichen sind mit jenen in Berlin oder Nordrhein-Westfalen. Wir müssen unseren eigenen Weg gehen und sind dabei auch schon relativ weit. Dennoch gibt es Leistungszentren, deren Voraussetzungen ein Stück weit mit unseren vergleichbar sind und in denen teilweise seit Jahrzehnten gut und erfolgreich gearbeitet wird. Dazu zählt für mich auch etwa die Ausbildung des SC Freiburg oder der Weg des FSV Mainz 05. Das heißt aber nicht, dass wir das genauso wie diese Vereine machen wollen. Wir halten in allen Bereichen die Augen offen, versuchen mit der Zeit zu gehen und die Arbeit der anderen Klubs zu beobachten, aber unter dem Strich haben wir unseren eigenen Kopf und unseren eigenen Weg, der sich aufgrund der Gegebenheiten erheblich von anderen unterscheidet.
Der SSV Jahn setzt sowohl bei den Profis als auch im Nachwuchs auf eine einheitliche Spielphilosophie. Inwiefern kann dieses Konzept deiner Meinung nach dem langfristigen Ziel, nämlich der Ausbildung eigener Talente für den Profikader, förderlich sein?
Der Vorteil liegt vor allem darin, dass wir altersübergreifend nach unserer Spielidee scouten und die Mannschaften danach zusammenstellen. Zudem bilden wir anschließend nach diesen Prinzipien aus. Wenn Kontinuität und eine klare Idee dahinter stecken, die sich nicht ständig ändert, haben die Spieler einen eindeutigen Vorteil, da sie diese Idee im Idealfall von klein auf vermittelt bekommen haben. Somit tut sich ein solcher Spieler dadurch deutlich leichter, wenn er bei den Profis mittrainiert, weil er dort - natürlich mit einem höheren Tempo – genauso agieren kann.
Wo könnten Risiken liegen?
Die Trainer müssen zu dieser Idee passen und eine ähnliche Vorstellung vom Fußball haben. Meiner Meinung nach gilt es als Verein aber eben auch immer, eine Idee so auszuarbeiten, dass sie sich auch ständig weiterentwickeln kann, denn der Fußball bleibt nicht stehen. Wahrscheinlich spielen wir in 30 Jahren nicht den Fußball, den wir heutzutage spielen, da wird sich im Hinblick auf das Regelwerk oder das Tempo viel verändert haben. Da müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes am Ball bleiben. Es wäre nicht gut, zu starr an einem Weg festzuhalten.
Wie bewertest Du vor diesem Hintergrund insgesamt die Umsetzung der Jahn Spielidee im letzten Jahr? Wie wird sie den Spielern vermittelt?
Ich kann viele Aspekte durchgängig in allen Teams wiedererkennen. Das ist ein Erfolg. Wir haben für uns ja im Detail ausgearbeitet, wie wir agieren wollen, und unsere Idee in Prinzipien formuliert, die in allen Altersbereichen Bestand haben und gültig sind. Diese Prinzipien versuchen wir von klein auf zu vermitteln. Dabei sind natürlich vor allem die Trainer gefragt und hier sehe ich uns auf einem sehr guten Stand. Wir haben einen Übungspool mit Formen, die zu dieser Idee passen und sie gut trainieren lassen. Des Weiteren stellen wir den Beteiligten eine Videodatenbank zur Verfügung, in der man sich immer wieder verschiedene Sequenzen anschauen kann, die aufzeigen wie etwas bei den Profis oder in den einzelnen Jahnschmiede-Mannschaften umgesetzt wird. Durch diese Angebote sollen die Jungs eine Vorstellung davon bekommen, wie das Ganze letztendlich aussehen soll, und ein Gefühl dafür entwickeln, wie wir Fußball spielen.
Blicken wir auf das Jahr 2020: Mit welchem Gefühl startest Du bezogen auf die Jahnschmiede ins neue Jahr?
Ich freue mich, dass es wieder losgeht. Wir hatten Anfang Januar die Trainersitzung, die sozusagen der Kick-Off im sportlichen Bereich war. Ich glaube die Spieler genießen es, wieder auf dem Platz zu stehen, und sind heiß darauf, das umzusetzen, was sie sich im Training erarbeiten. Ich bin guter Dinge, dass wir die nächsten Schritte gehen können. Wir arbeiten im Hintergrund fieberhaft daran, in verschiedenen Bereichen weiterzukommen und die nächsten Schritte einzuleiten.
Christian Keller betonte zuletzt unter anderem bei der Mitgliederversammlung, dass sich die Jahnschmiede zwar auf einem guten Weg befinde, aber dennoch lange nicht dort ist, wo sie hinwill. Mit Blick auf das neue Jahrzehnt: Wo soll und kann die Jahnschmiede im Dezember 2029 stehen?
Unser Ziel ist, uns zu einem der Top-Leistungszentren in Deutschland zu entwickeln. Wir wollen uns langfristig über die Jugendarbeit definieren, etwas aufbauen und eigene Jungs im Profikader haben. Dabei haben wir ganz klar noch einen weiten Weg vor uns, aber dieser Weg war vor fünf Jahren noch sehr viel weiter. Wir haben schon eine gute Strecke absolviert. Uns muss bewusst sein, dass es – um in der Läufersprache zu bleiben – kein Sprint ist, sondern ein Marathon, den wir bestreiten. Momentan sind wir vielleicht bei Kilometer 20. Es liegt noch viel vor uns, aber wir haben auch schon einiges hinter uns und es ist immer mehr Substanz vorhanden. Wie schnell der weitere Prozess abläuft, kann ich nicht prognostizieren, schließlich hängt das auch von der Gesamtklubentwicklung ab und davon wie wir uns deshalb wirtschaftlich, infrastrukturell und personell weiterentwickeln.
Wir sind inzwischen der Ausbildungsverein in Ostbayern. Wir müssen das Level jetzt aber weiter hoch halten, sodass wir Stück für Stück immer mehr Spieler in Richtung erste Mannschaft oder generell in Richtung Profibereich bringen können. Als Fernziel für 2029 und wenn es geht schon davor erhoffe ich mir, dass wir jedes Jahr den einen oder anderen Spieler rausbringen. Zudem hoffe ich, dass wir die Identität, die wir aufgebaut haben, weiter festigen und ausbauen können, denn auch die richtige Atmosphäre im Verein und in der Jugendabteilung ist enorm wichtig.
Im <link jahnschmiede auf-einen-blick news-im-detail>ersten Teil des Interviews blickt Martin auf die Entwicklung der Jahnschmiede und das Abschneiden der einzelnen Junioren-Teams im vergangenen Jahr zurück.
Im <link jahnschmiede auf-einen-blick news-im-detail>zweiten Teil erklärt er unter anderem die zentralen Aspekte des Ausbildungskonzepts der Jahnschmiede.